Grenzen der Glasstatik verschoben
Siegerprojekt: Young Professional
Damit die um 1860 erbauten Schauhäuser des Botanischen Gartens Bern weiterhin sicher und energieeffizient genutzt werden können, war eine Sanierung der Tragstruktur und Hülle nötig. Die denkmalgeschützte Stahlkonstruktion durfte nur minimal verstärkt werden – und verlangte nach einer extrem leichten, zugleich sicheren Dachverglasung. Pascal Joos, kreierte dafür – im Zuge seiner Arbeit bei Lüchinger Meyer Partner AG - ein neues Isolierglas, das Leichtigkeit, Sicherheit und Effizienz vereint – und erhielt dafür den Building-Award 2025.
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Siegerprojekt: Young Professional
Grenzen der Glasstatik verschoben
Damit die um 1860 erbauten Schauhäuser des Botanischen Gartens Bern weiterhin sicher und energieeffizient genutzt werden können, war eine Sanierung der Tragstruktur und Hülle nötig. Die denkmalgeschützte Stahlkonstruktion durfte nur minimal verstärkt werden – und verlangte nach einer extrem leichten, zugleich sicheren Dachverglasung. Pascal Joos, kreierte dafür – im Zuge seiner Arbeit bei Lüchinger Meyer Partner AG - ein neues Isolierglas, das Leichtigkeit, Sicherheit und Effizienz vereint – und erhielt dafür den Building-Award 2025.
Glasarchitektur im historischen Kontext
Hoch über der Aare, unweit der Lorrainebrücke, liegt der Botanische Garten der Universität Bern – ein grünes Refugium mitten in der Stadt. Seit über 160 Jahren beherbergen die dortigen Schauhäuser Pflanzen aus allen Klimazonen der Welt. Ihre feinen Stahl-Glas-Konstruktionen, inspiriert vom legendären Crystal Palace, gelten als Meisterwerke der frühen Glasarchitektur.
Doch die Zeit hat an den kleinen Schauhäusern genagt. Korrosion, undichte Fugen, thermische Verluste und unzureichende Tragreserven machten eine umfassende Erneuerung unumgänglich. Weil die Gebäude als K-Objekte unter Denkmalschutz stehen, mussten Tragstruktur und Materialität bewahrt bleiben. Die filigrane Stahlstruktur durfte nicht durch massive Verstärkungen entstellt werden. Der Schlüssel lag also in der Reduktion der Dachlast – insbesondere der Glaslast.
Die Herausforderung -leichter als 15 kg / m2
Die Randbedingungen der Tragwerksplanung waren kompromisslos. Das Gesamtgewicht der Isolierverglasung durfte 15 kg/m² nicht überschreiten, was weniger als einer Gesamtdicke von 6 mm Glas entspricht. Gleichzeitig musste die Verglasung sämtliche Anforderungen an Trag- und Gebrauchstauglichkeit, Überkopfverglasung, Hagelschutz und Verletzungshemmung erfüllen – und zusätzlich für die Pflanzen hohe Licht- und UV-Transmissionswerte bieten. «Es war klar, dass wir die Grenzen des technisch Machbaren verschieben mussten», erinnert sich Pascal Joos. «Ein Standard-Isolierglas erfüllt zwar alle Normen, ist aber viel zu schwer. Wir mussten also die Glasphysik von Grund auf neu denken.»
Das Rennen um jedes Gramm
In einer breit angelegten Variantenstudie wurden verschiedene Glasaufbauten entwickelt und bewertet. Klassische Kombinationen aus ESG, TVG oder Floatglas erwiesen sich als zu schwer oder zu wenig widerstandsfähig. Auch Vakuumgläser schieden wegen der Gewichtsbeschränkung und fehlender UV-Transmission aus.
Übersicht:
Typ A0
Aufbau: 2 mm Float, 14 mm Argon, 2 mm Float.
Glasstärke 4 mm
Glasgewicht 10 kg/m 2
Typ A1
Aufbau: 4 mm ESG-H, 14 mm Argon, VSG 2 x 2 mm mit UV- Verbundfolie.
Glasstärke 8 mm
Glasgewicht 20 kg/m 2
Typ A2
Aufbau: 3 mm Glas Vakuum 2 x 3mm VSG mit UV- Verbundfolie.
Glasstärke 9 mm
Glasgewicht 22,5 kg/m 2
Typ A3
Aufbau: Splitterbindende Schutzfolie 2 mm CVG, 14 mm Argon, 2 mm CVG Splitterbindende Schutzfolie.
Glasstärke 4 mm
Glasgewicht 10 kg/m 2
Die zunächst aussichtsreiche Variante A1 – ein Aufbau aus 4 mm ESG, 14 mm Argon und einem VSG aus 2 × 2 mm Floatglas – wog 20 kg/m² und lag damit deutlich über der Zielvorgabe.
Der Durchbruch kam, als Joos die Funktionen der Scheiben klar trennte. Die äussere Scheibe sollte Einwirkungen aufnehmen, Hagelwiderstand und Sicherheitsanforderungen erfüllen; die innere Scheibe lediglich den Scheibenzwischenraum abschliessen und die Überkopfanforderungen tragen.
So entstand Variante A4 – ein innovativer Aufbau aus 4 mm ESG-H, 14 mm Argon, und einem Verbundsicherheitsglas aus 2 × 0,7 mm chemisch vorgespanntem Glas (CVG) mit einer SentryGlas-Folie.
Das Ergebnis: Gesamtdicke 5,4 mm, Gewicht 14,3 kg/m² – und sämtliche funktionalen Anforderungen erfüllt.
Chemisch vorgespanntes Glas - Hightech aus der Nische
Das Herzstück des neuen Aufbaus ist das chemisch vorgespannte Glas (CVG) – ein Produkt, das in der Architektur bislang kaum Anwendung fand. Im Gegensatz zu thermisch vorgespanntem Glas (TVG oder ESG) entsteht die Festigkeit hier durch Ionenaustausch an der Glasoberfläche. Dadurch entsteht eine Oberflächendruckspannung von rund 900 N/mm², ein Vielfaches des Werts herkömmlicher Sicherheitsgläser. Allerdings ist die Tiefe der Vorspannung – die sogenannte Depth of Layer (DoL) – mit 10 bis 100 µm sehr gering. Das macht CVG empfindlicher gegenüber Oberflächenschäden. Ob es sich dennoch für den dauerhaften Einsatz im Bauwesen eignet, war bislang kaum erforscht.
«Wir betraten Neuland», sagt Joos. «Es gab keine Norm, keinen kmod-Wert, keine Erfahrungswerte. Also mussten wir die Grundlagen selbst schaffen.»
Versuch und Irrtum – wissenschaftlich begleitet
An der Hochschule Luzern führte Joos gemeinsam mit Forschenden eine Reihe von praxisnahen Versuchen durch:
- Vierpunktbiegeversuche an monolithischem CVG, um die Kurzzeitfestigkeit zu prüfen
- Langzeit-Biegeversuche über mehrere Wochen, um die Dauerstandfestigkeit zu bewerten
- Stoss- und Resttragfähigkeitsversuche am kompletten Isolierglasaufbau A4.
Die Ergebnisse waren verblüffend: Selbst beschädigte CVG-Proben zeigten eine hohe Biegezugfestigkeit und blieben auch nach 100 Tagen unter Dauerlast unversehrt. Beim Kugelfallversuch durchschlug eine 4,1 kg schwere Stahlkugel aus 3 m Höhe wohl die äussere ESG-Scheibe, wurde aber vom inneren CVG-Verbundglas sicher abgefangen. Der Aufbau blieb auf den Auflagern – ein entscheidender Sicherheitsnachweis.
Auch die Resttragfähigkeit überzeugte: Bei einer simulierten Flächenlast von 0,3 kN/m² – vergleichbar mit Wasser- oder Schneelast nach einem Bruch – blieb das Glas stabil über 72 Stunden. Erst bei 0,375 kN/m² begann es, sich von den Auflagern zu lösen.
Bauphysik und Pflanzenfreundlichkeit
Neben der Statik waren die lichttechnischen Eigenschaften entscheidend. Die Messungen am Fraunhofer-Institut Stuttgart zeigten eine Lichttransmission von 82 % und eine UV-Transmission von 52 % – Werte, die optimale Wachstumsbedingungen für die Pflanzen gewährleisten. Der geforderte Wärmedurchgangskoeffizient (Ug = 1,6 W/m²K) wurde im geneigten Einbau erreicht.
Auch die Hagelprüfung an der Ostschweizer Fachhochschule bestätigte die Robustheit des Systems: Klasse HW 3 nach VKF, ausreichend für die exponierte Lage der Schauhäuser.
Von der Forschung in die Praxis
Nach der erfolgreichen Testphase folgte die anspruchsvolle Umsetzung. Um die hohen Stückzahlen kleiner Glasscheiben wirtschaftlich fertigen zu können, wurden Produktionsprozesse optimiert. Statt polierter Kanten genügen geschliffene, der Randverbund wurde durch ein UV-resistentes Silikon ersetzt, das auf das randemaillierte Glas verzichtet. Entscheidend war die Umstellung auf eine vollautomatisierte Isolierglaslinie, mit der sich die Serienproduktion trotz der unkonventionellen Glasdicken realisieren liess. Eine Pilotproduktion bestätigte die Machbarkeit – und öffnete den Weg für die Sanierung der Schauhäuser, deren Ausführung bis Mitte 2026 abgeschlossen sein soll.
Ein Preis für Forschergeist und Präzision
Mit der Entwicklung des ultraleichten Isolierglases gelang Pascal Joos nicht nur eine technisch bahnbrechende Lösung, sondern auch ein Beitrag zur Vereinbarkeit von Denkmalschutz und moderner Bauphysik. Seine Arbeit verbindet Ingenieurkunst, Forschung und handwerkliche Präzision – Werte, die der Metallbau in besonderer Weise verkörpert.
Die Jury des Building-Award 2025 würdigte den Ansatz als «mustergültige Verbindung von wissenschaftlicher Neugier, innovativer Glasarchitektur und denkmalgerechter Bauweise».
Fazit
Das Projekt «Kleine Schauhäuser – Botanischer Garten Bern» zeigt eindrücklich, wie präzise Metall- und Glasbau heute zusammenspielen können. Mit dem eigens entwickelten Leichtgewicht-Isolierglas wurde eine Lösung geschaffen, die historische Architektur bewahrt und gleichzeitig technologische Grenzen neu definiert.
Für den Metallbau bedeutet sie: weniger Gewicht, mehr Effizienz – und ein Beispiel dafür, wie Forschung und Praxis gemeinsam Zukunft bauen. ■
Gewonnene Auszeichnungen
Building Award 2025, Kategorie Young Professional, Siegerprojekt
IABSE Young Engineers' Symposium 2024, Siegerprojekt
«Für mich war entscheidend, dass die Lösung im Sinne des Originals funktioniert», sagt Joos. «Die filigrane Struktur bleibt erhalten – und gleichzeitig erfüllen wir die Anforderungen an Sicherheit, Energieeffizienz und Nachhaltigkeit.»
Pascal Joos , durchlief den gesamten Ausbildungsprozess vom Metallbaukonstrukteur zum BSc FH Bauingenieur Metall- und Fassadenbau und ist heute bei der Joos Metall- und Stahlbau AG Mitglied der Geschäftsleitung und für die Leitung des Tech. Büros verantwortlich.
Bautafel
Bauherrschaft:
Bau- und Verkehrsdirektion des Kantons Bern, Amt für Grundstücke und Gebäude
Architekt:
Suter + Partner AG Architekten
Fassadeningenieur:
Lüchinger Meyer Partner AG
Tragwerksingenieur:
WAM Planer und Ingenieure AG
Metallbauer:
Aellig Metallbau AG
Hochschule / Institute:
Hochschule Luzern, Architektur und Technik, CC Gebäudehülle
Ostschweizer Fachhochschule, SPF Institut für Solartechnik
Fraunhofer-Institut für Bauphysik IBP